Entstehungsgeschichte von “LINIE 41”

In Łódź wäre die Ausrede „Wir haben doch von nichts gewusst“ schier unmöglich oder Ausdruck noch größerer Ignoranz oder höchster Verdrängung, als es dieser Satz ohnehin schon ist. Könnte man hier in Łódź nicht wie in einem Brennglas das Verhältnis zwischen Opfern, Tätern und „Zuschauern“ der jüdischen Katastrophe untersuchen, das hier enger war als in jeder anderen europäischen Stadt damals?

Die polnische Großstadt war nach dem deutschen Einmarsch von den Nazis zur „Germanisierung“ ausgewählt worden. Dazu wurde für die jüdische Bevölkerung inmitten dieser polnischen Großstadt ein Ghetto eingerichtet. Am Anfang der Recherchen zu diesem Film stand Erstaunen und Erschütterung: Während der ganzen Zeit seines Bestehens war dieses Ghetto von einer von Deutschen und Polen bewohnten Großstadt umgegeben. Es war zwar isoliert vom Rest der Stadt, doch zugleich war es ein offenen Geheimnis für die nicht-jüdischen Bürger der Stadt. Die durch das Ghetto führenden Straßenbahnlinien gaben den deutschen und polnischen Fahrgästen tagein, tagaus Gelegenheit, das Ghetto zu sehen, die gefangenenen Menschen darin und die sich über die Jahre verschlimmernden Zustände. Die Menschen lebten zwar in ein und derselben Stadt, doch Welten voneinander getrennt. Wie nahm die „freie“ Bevölkerung dieses offen sichtbare, öffentliche Gefängnis wahr, in dem über diesen Zeitraum mehr als 180.000 Menschen lebten und ca. 46.000 an Hunger, Krankheit oder durch Erschießungen und Selbstmord starben?

Mein Ziel war es, Menschen, die damals in solch voneinander isolierten Welten lebten, in unserem Film zu Wort kommen zu lassen, vielleicht sogar ins Gespräch miteinander zu bringen.

Meine größte Sorge war, noch rechtzeitig letzte polnische, jüdische, deutsche Zeitzeugen, hochbetagte Menschen zu finden, die aus diesen unterschiedlichen Sphären berichten können würden: Opfer dieser Politik, aber auch Menschen der Täterseite, Deutsche, die diese Verdrängungs- und Vernichtungspolitik umsetzen halfen. Und Zeitgenossen, die damals Zuschauer des Geschehens waren. Der Film ist gewiss ein Versuch, Mechanismen des Holocaust ein wenig besser zu verstehen. Vor allem aber will er das Leben und Leiden im Ghetto näher bringen und stehen die Erzählungen und Emotionen der Protagonisten im Vordergrund und deren Versuche, Verdrängung zu überwinden. „Es ist da etwas geschehen, mit dem wir alle nicht mehr fertig werden“, so beginnt und endet unser Film (in Anlehnung an Hannah Arendt). Dieses Nicht-Mehr-Fertig-Werden äußert sich darin, dass man die Geschichte nicht bewältigen kann, sondern gezwungen ist, sie immer wieder neu und anders zu erzählen.

Tanja Cummings

(Regie/Produktion)

 

LINIE 41 entstand ohne Filmförderung, war keine Auftragsproduktion eines Fernsehsenders. Wir realisierten unseren Film auf eigene Kosten und arbeitetete das Kernteam unentgeltlich. In kritischen Phasen erhielten wir Unterstützung von Stiftungen aus Deutschland, Polen und der Schweiz und half uns über die Jahre immer wieder großzügig ein Berliner Techniksponsor.